03.01.1993 – Festrede zur 1100 Jahrfeier

Festrede anlässlich des ersten Neujahrsempfangs im Rahmen der 1100-Jahr-Feierlichkeiten, gehalten in der St. Laurentiuskapelle

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich habe heute morgen die Ehre, im Rahmen des Neujahrsempfangs zur 1100-Jahrfeier Eschringens die sogenannte „Festrede“ zu halten. Die meisten von Ihnen wissen, daß ich als „Notnagel“ eingesprungen bin, da der ursprünglich vorgesehene Redner aus diversen Gründen absagen mußte. Mir ist bewußt, daß ich meinen ehemaligen Kollegen Fred Oberhauser – er stünde normalerweise jetzt hier – nicht ersetzen kann. Er kennt die gesamte Saar-Lor-Lux-Region wie seine eigene Westentasche, vom Westrich und dem Bliesgau, wozu ja auch Eschringen gehört, ganz zu schweigen. Und wer seine Kunst des Erzählens, des Fabulierens kennengelernt hat, wird sich schwerlich an ihm zu messen versuchen.

Was bleibt als Thema einer Festrede, wenn man sich auf die Region, auf das Saarland als Ganzes nicht einlassen will? Man konzentriert sich auf den Ort Eschringen, dessen erste urkundliche Erwähnung vor 1100 Jahren ja den Anlaß zu den Feierlichkeiten gegeben hat. Und da böte sich natürlich an, in die Geschichte dieser Gemeinde einzutauchen und einen Abriß der wechselvollen und ereignisreichen Biographie Eschringens zu geben. Diesen Versuch werde ich aber ebenfalls tunlichst unterlassen, denn es gibt einen berufeneren, meines Erachtens sogar einen einzigen, der dieser Aufgabe gerecht werden könnte – er weilt heute unter uns – es ist Heinrich Moog. Seit vielen Jahren schon beschäftigt er sich mit der nur bruchstückhaft bekannten Geschichte Eschringens, und ich denke, ich kann – nach der Lektüre einiger Kapitel seines Buches, an dem er derzeit noch schreibt – einschätzen, welche Sisyphusarbeit er sich aufgebürdet hat, um aus einer Vielzahl von z. T. nur schwer zugänglichen Quellen und Dokumenten eine umfassende Geschichte des Ortes zu formen. Und ich weiß, daß er auch eine Reihe von bis dato unbekannten Erkenntnissen zu Tage gefördert hat, die manche, längst festgeschriebenen Ergebnisse der regionalen Geschichtsforschung in Frage stellen, z. T. sogar widerlegen.

Also werde ich den Teufel tun und Ihnen irgendeine schwammige, ungesicherte Einführung in die Historie Eschringens auftischen. Warten Sie mit mir gespannt und neugierig auf Heinrich Moogs Buch, oder präziser gesagt, den ersten Band seiner Geschichte Eschringens. Denn mit dem üppigen Quellenmaterial, das zu Eschringen existiert, aber noch lange nicht ausgewertet ist, läßt sich bequem ein mehrbändiges Werk erstellen.

Auf das Glatteis der – teilweise nur noch wenige Monate im Dunkeln liegenden – Dorfgeschichte will ich mich also auch nicht begeben. Ergo habe ich in mich hineingeschaut und mir überlegt, welche Beziehung ich als zugezogener Neubürger – und nicht mal Saarländer! – zu diesem Ort, zu seinen Menschen entwickelt habe. Ich wohne, besser gesagt, lebe jetzt seit knapp sechs Jahren mit meiner Frau und unseren beiden Kindern in Eschringen. Ein paar Jahrzehnte dürfte der Assimilierungsprozeß noch in Anspruch nehmen, bis ich als „richtiger“ Eschringer durchgehe – hat man mir gesagt -, aber das stört mich nicht weiter. Es ist, denke ich, sogar von Vorteil, wenn man ein Dorf, eine Gemeinde wie Eschringen porträtieren will, dies von einer noch etwas distanzierten Position aus zu tun. Vielleicht erschließen sich dem Zugereisten die Charakteristika dieses Dorfes und seiner Menschen doch eher, als dem Einheimischen oder – noch direkter gesagt – dem „Eingeborenen“, für den so vieles alltäglich und selbstverständlich geworden ist.

Wir, also meine Frau und ich, sind durch puren Zufall in Eschringen, bekanntermaßen der kleinste Stadtteil Saarbrückens, gelandet. Wir hatten schlicht und einfach das Stadtleben satt, die Hektik, den Lärm, die Häusermeere ohne Grün, die Anonymität. Nach etlichen Jahren in diversen Städten sehnt man sich – wenn man selbst auf dem Lande aufgewachsen ist – irgendwann wieder zurück, erinnert sich der Annehmlichkeiten des Dorflebens, wohlwissend der Vorzüge, die das Leben und Treiben in der Stadt mit sich bringt, und auf die man ja zukünftig verzichten müßte.

Wir sind damals, es war um diese Jahreszeit, mit dem Auto um Saarbrücken herumgefahren, haben uns die Ortschaften im näheren Umkreis angeschaut, und eines Sonntagnachmittags sind wir nach Brebach und dann nach Fechingen gefahren, wollten wieder umkehren und sind dann doch weiter: der langgezogenen, leicht ansteigenden Landstraße folgend – Landstraße, genau – wir waren jetzt auf dem Lande; sanfte, bewaldete Hügelketten, Äcker und Wiesen, von einem dünnen Schneefilm bedeckt. Und nach einer Doppelkurve präsentierte sich uns schließlich die Silhouette Eschringens, dominiert von einer Kirche mit Zwiebelturm. In Oberschwaben oder Niederbayern konnten wir kaum gelandet sein; wir befanden uns im Bliesgau, in einem Ort, von dem wir vorher – zugegebenermaßen – nie gehört hatten. Er gefiel uns auf Anhieb, und dank weiterer Zufälle zogen wir schon wenige Monate später dorthin – hierher.

Wenn man sich entschlossen hat, sich – zumindest für längere Zeit – niederzulassen, Wurzeln zu schlagen, dann entwickelt sich auch das Verlangen des Sichvertrautmachens mit der neuen, noch fremden Umgebung. Jedenfalls erging es mir so. Und als Bibliothekar begab ich mich natürlich bald auf die Suche nach Sachinformationen und auch literarischen Texten zu Eschringen. Die Ausbeute war nicht gerade üppig. Bis zum heutigen Tage ist da auch nur wenig Substanzielles hinzugekommen. Eschringen gilt eben noch „entdeckt“ zu werden. Von Fred Oberhauser weiß ich, daß es immerhin einen Roman gibt er in Eschringen spielen soll. Er heißt „Das Land unter dem Regenbogen“ und erschien im Jahre 1924. Geschrieben hat ihn Alfons Schreieck, ein aus Neustadt an der Weinstraße stammender Lehrer, der vor dem 1. Weltkrieg an der Eschringer Schule unterrichtete. Ich habe hier eines der raren Exemplare dieses Romans. Ich gestehe, nach den ersten zehn Seiten gab ich auf; ich konnte keine Bezüge zu Eschringen erkennen. Sämtliche Orts- und Familiennamen hat Schreieck nämlich durch Phantasienamen ersetzt. Es geht, kurz gesagt, in diesem Roman um das Pro und Contra des Baues einer Bahnlinie, vielleicht ist damit die Klein- und Straßenbahn gemeint, die vor 80 Jahren ihren Betrieb von Brebach aus nach Ormesheim via Eschringen aufnahm.

In Büchern zu Saarbrücken kommt Eschringen allenfalls am Rande vor. Nun, Eschringen liegt ja auch am Rande und wurde erst im Rahmen der Gebietsreform vor knapp 20 Jahren der Landeshauptstadt zugeschlagen. In „Stadt und Land“, einem Bildband über den Stadtverband Saarbrücken, schreibt Manfred Römbell: „Hier liegen die Dörfer noch weit auseinander, rücken sich nicht auf die Pelle, lassen Luft und Land zwischen sich. Da gibt es Ruhe und Klarheit zwischen den Obstbäumen und den Wiesen hinüber nach Eschringen, im ständigen Wechsel zwischen der Weite der freien Landschaft und der Geschlossenheit der Waldgruppen, der Waldeinsprengsel.“

Mehr ist ihm offenbar nicht ein- bzw. aufgefallen. Nicht mal die Katholische Pfarrkirche St. Laurentius, die Bernhard Bonkhoff in seinem Buch „Die Kirchen im Saar-Pfalz-Kreis“ als „eindrucksvollen Sandsteinbau in beherrschender Lage“ charakterisiert. Von ihm weiß ich auch, daß es nicht „Zwiebelturm“, sondern „Barockhaube“ heißt. Besagte Kirche wurde erst 1930 feierlich eingeweiht; davor mußten die Eschringer sich mit diesem Kirchlein, wo wir uns momentan befinden, begnügen. Die St. Laurentiuskapelle liegt zwar zentral, aber etwas versteckt und wirkt recht unscheinbar. Doch als Ort für diesen Neujahrsempfang ist sie mit Bedacht gewählt. Denn die Kapelle darf gewiß als das historisch bedeutsamste Gebäude Eschringens bezeichnet werden; nicht nur, weil sie vor gut 700 Jahren erstmals Erwähnung fand, sondern weil sich auch Sagen und Legenden um diese Kapelle, genauer gesagt um eine Holzskulptur des Schutzheiligen ranken. Nebenbei bemerkt: Es gibt in und um Eschringen eine ganze Reihe von Sagen und Spukgeschichten. Eine Legende, die von der vorgenannten Figur des heiligen Laurentius handelt, will ich Ihnen nicht vorenthalten:

„Bei Eschringen steht die St. Laurentiuskapelle, in einer Nische hinter dem Altare bewahrte sie des Heiligen Bild. Unten bei der Mühle sprudelt der Lorenzborn. Hier lebte vor Zeiten mit ihrer Enkelin eine alte Witwe. Von dem übernächtigen Spinnen war die Alte fast erblindet. Einmal in später Mitternacht fand ein halberstarrtes altes Mütterlein bei ihr Herberge und Erquickung. Des Morgens bestrich die Fremde der Kranken die Augen und riet ihr, sich siebenmal des Tages zu waschen mit frischem Wasser aus de Born der Mühle. Die Großmutter genas wie ein Wunder.
Als eines Tages das Mägdlein mit dem Kruge wieder zum Brunnen gekommen war, fuhr es erschrocken zurück, denn aus der Tiefe des Wassers schaute ein Antlitz sie an, so hold und freundlich wie das eines Engels, und diese Erscheinung wiederhlte sich bei ihr bei jedem Gang an den Brunnen. Man untersuchte den Quell und zog aus dem Schlamm das Bild des heiligen Laurentius und brachte es zur Kapelle. Der Brunnen, in den also das Bild gekommen, war ein Heilwasser für vielerlei Leiden.“

In ihrem im vergangenen Jahr erschienenen Buch „Wallfahrten und Kultstätten im Saarland“ geht Gabriele Oberhauser recht ausführlich auf die Verehrung des heiligen Laurentius in Eschringen ein. Aufgrund seines Martyriums – er wurde unter Kaiser Valerian auf glühendem Rost zu Tode gefoltert – ist Laurentius der Schutzheilige der mit Feuer beschäftigten Berufe, z. B. der Feuerwehrleute, Köche oder auch Glasbläser. Und nicht nur das. Er ist – was mich natürlich besonders berührt – als Betreuer der Kirchenbücher auch der Patron der Bibliothekare!
Noch einmal zurück zum „Lorenzebrunne“. Dazu schreibt Gabriele Oberhauser u. a.: „Das ganze Jahr über kamen Einheimische und Auswärtige, badeten die Augen, beteten in der Kirche und nahmen Wasser mit nach Hause…Das hörte erst 1942/43 auf, als der Brunnen durch eine Scheune überbaut wurde.“ Der Brunnen ist also nicht mehr zugänglich, was sich aber vielleicht irgendwann einmal ändern könnte.

Neben den Kirchen gibt es noch einige weitere markante Gebäude in Eschringen. Das „Gasthaus zur Post“ mit der Heimatstube werden Sie noch kennenlernen; von dort aus können Sie zur Mühle hinüberblicken, die allerdings gegenwärtig nicht gerade zu einer Besichtigung einlädt. Der Eschringer Hof, in der Mitte der Hauptstraße gelegen, fällt noch ins Auge, ebenso das alte Depot am Ortsausgang Richtung Fechingen, das Erinnerungen an die gute alte Straßenbahn weckt.

Ich hatte eingangs erwähnt, daß man beim Anblick Eschringens – egal, von welcher Seite man aus in den Ort kommt, ob von Ormesheim, Ensheim oder Fechingen – sich durchaus in Regionen im Süden Deutschlands versetzt fühlen kann; das bestätigen mir auch immer wieder Freunde und Bekannte aus dem „Reich“ (wie man hier so sagt). Solch ein Vergleich hinkt natürlich; mit für den Fremdenverkehr herausgeputzten Heile-Welt-Dörfern wie z. B. im Allgäu oder in Niederbayern kann Eschringen nicht mithalten, will es ja wohl auch nicht. Hier gibt es eben Brüche im Dorfbild, Gebäude, die nicht passen, Häuserfronten, die niemals einen Schönheitswettbewerb gewinnen können. Mich stört es nicht; ich ziehe diese herbe, manchmal wilde Mischung der künstlich erhaltenen Puppenstubenromantik vor.

Für das Saarland gibt es ja einige Wanderführer, und auch da kommt Eschringen allenfalls als Zwischenstation oder als Ausgangspunkt einer Wanderung vor. Der „Saarland-Rundwanderweg“ geht bekanntlich quer durch den Ort. Für den Profi-Wanderer bleibt wohl keine Zeit zum Verweilen. Dabei lernen Sie mit den Jahren hier herrliche Wege zum Spazieren kennen: weite, die Sie z. B. nach Gräfinthal oder Bliesransbach führen, kurze, für Sonntagnachmittagsspaziergänge, die Ihnen, ob vom Überwald her oder von der gegenüberliegenden Seite, der Sitters, prächtige Panoramen Eschringens liefern.

Ihnen werden Menschen begegnen, die Sie – selbst wenn Sie fremd hier sind – grüßen; das trifft man – nach meinen Erfahrungen eher selten an in unserem Lande. Womit ich mir endlich eine herrliche Brücke zu den Eschringern gebaut habe. Denn das Porträt eines Ortes bliebe unvollständig, ohne auch auf seine Bewohner einzugehen. Als ich mit meiner Familie hierher kam, begegnete man uns mit Freundlichkeit, Offenheit und einer nie störend empfundenen Portion Neugierde. Was uns aber verwunderte, ja stutzig machte, war das nicht gerade positive Bild, das so manch Eschringer von den Eschringern zeichnete. Verschlossen und mißtrauisch, dickköpfig und miesepetrig soll der Eschringer sein, der „homo eskringos“! Das Gegenteil hatten wir erfahren, und bis zum heutigen Tage können wir nicht klagen.

In einem solchen Falle lohnt es sich meist, mal in den Nachbardörfern nachzufragen, und in der Tat waren die Meinungen über das Völkchen der Eschringer nicht gerade schmeichelhaft. Ein Ex-Kollege, ein 100%iger Ensheimer, rümpfte die Nase und meinte lapidar: „Mit denne is nix loss.“ Seiner Ansicht nach fehle den Eschringern genau das, was z. B. die Ensheimer auszeichne: Aufgeschlossenheit, Weltläufigkeit und vor allem ein unerschütterliches Gemeinschaftsgefühl. Ich muß gestehen, daß mich diese arrogante Haltung ärgerte. Aber es mußte was dran sein, denn es war nicht der einzige Kommentar, den ich aus dieser Richtung hörte. Offenbar blickt man von Ensheim – im wahrsten Sinne des Wortes – auf Eschringen herab. Dabei weiß ich inzwischen aus dem Buch von Edith Braun, „Necknamen an der Saar“, daß die Ensheimer Eschringen „Glään Barriss“ (also Klein-Paris) nannten, weil sie die Sprache der Eschringer „feiner“ als die eigene fanden.

Nun, vor einiger Zeit kam mir noch eine interessante Redewendung unter, die – positiv gesprochen – eine lebendige Streitkultur in Eschringen konstatiert. Ich hoffe, ich gebe sie richtig wieder: „In Eschringe geht nix zesamme als die Milch.“
Mag sein, daß in der Vergangenheit manches hier im Ort nicht so zusammenging; mag sein, daß es den Eschringern ein wenig an Selbstbewußtsein mangelt. Aber die letzten ein, zwei Jahre, denke ich, zeigen in die richtige Richtung. Bestes Beispiel: die Gründung der „Arbeitsgemeinschaft Eschringer Vereine“. Die bisherigen Erfahrungen sind ermutigend, denn viele engagieren sich für die unterschiedlichsten Aktivitäten im Rahmen der 1100-Jahr-Feierlichkeiten. Und wenn alle an einem Strang ziehen, wird das Jahr 1993 über das Jubiläum hinaus ein Markstein in der Geschichte Eschringens werden. Das Gemeinschaftserlebnis der diesjährigen Festivitäten wird auch die Dorfgemeinschaft stärken, dessen bin ich mir ziemlich sicher.
Es gibt ja eine Prophezeihung, die in diese Richtung zielt. Mancher von Ihnen kennt sie vielleicht schon. Sie entstammt einer weiteren Sage um die Kapelle und die Figur des heiligen Laurentius, der Sage vom versunkenen, also verschwundenen Glöcklein. Da heißt es am Schluß: „Ein alter Klosterbruder aber hat gesagt, sobald in der Gemeinde des Dorfes die altererbte Zwietracht zu schwinden anfange, hebe sich das Glöcklein um einige Fuß und werde endlich am Festtage allgemeiner Versöhnung an der Oberfläche erscheinen.“

Dem will ich nichts weiter hinzufügen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!

Roland Schmitt